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FELIX BRAUN - TEXTE

(nachstehend zwei verschiedene Versionen)

Bitte beachten:
Im Internet schwirren zum Teil verfälschte Versionen herum.

 

Der Leser -  aus: Gedichte , Haupt & Hammon,1909

Sag: ist das nicht ein wunderliches Leid:
um fremde Menschen trauern, die nicht leben,
und über Dinge, die sich nie begeben,
voll Sehnsucht träumen in der Einsamkeit?

Geheimnis, dessen Sinn ich nie verstand:
sich über Worte atemlos zu neigen
und zu vernehmen in gespanntem Schweigen,
was einer dachte, träumte und empfand.

Wenn dann die letzte Zeile still verrinnt,
sich weit zurück im weichen Sessel lehnen,
die Arme breiten, lächeln unter Tränen
und wieder müßig blättern wie ein Kind.

Und stundenlang wie tief im Nebel gehn
und Verse summen, die wie Glocken läuten,
die tiefstes Glück und tiefstes Leid bedeuten
und dennoch langsam in den Wind verweh'n.

****

Der Leser  - aus: Viola d’Amore, Otto Müller, 1953

Sag: ist das nicht ein wunderliches Leid:
Um fremde Menschen trauern, die nicht leben,
Und über Dinge, die sich nie begeben,
Voll Sehnsucht träumen in der Einsamkeit?

Geheimnis, dessen Sinn ich nie verstand:
Sich über Worte atemlos zu neigen
Und zu vernehmen, in gespanntem Schweigen,
Was einer dachte, fühlte und erfand.

Wenn Zeile so nach Zeile still verrinnt,
Sich wohlig weit zurück im Sessel lehnen,
Die Arme dehnen, lächeln unter Tränen
Und wieder müßig blättern wie als Kind.

Und auf und ab in Abendgassen gehn.
Und Verse singen, durch die Glocken läuten,
Und ahnen, daß sie Welt und Leben deuten
Und dennoch dunkel in den Wind verwehn.

 

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