DIE WELTANSCHAUUNG DOSTOJEWSKIS

von Dr. Hans Prager, Verlag Borgmeyer, Hildesheim, 1923, 215 Seiten

VORWORT von STEFAN ZWEIG zu o.g. Werk

   Ein großer Genius tritt in drei Formen aus seiner Zeit ins Ewige hinüber: zuerst erscheint er als einzelne isolierte Gestalt vor den Menschen, irdisch noch und im Schatten des Werkes, dann gleichsam als Objekt der Wissenschaft ein Gegenstand der Geschichte und Philologie, dann auf höchster Stufe - vollkommen überzeitlich - als Element des Geistes, als unvergänglich-unveräußerliche Kristallform des Menschlichen. Bei Goethe haben wir diesen Übergang am deutlichsten erlebt. Erst galt er Deutschland als Dichter, dann fiel er der Wissenschaft zu eigen, die sein Leben und Werk wie ein ungeheures Bergwerk durchhämmerte: heute ist er ganz Symbol geworden, welthistorische Erscheinung wie Napoleon oder Cäsar, Geistelement wie Rom oder Athen, reinste Vollendung einer einmaligen Daseinsform und darum Maß aller Menschheit.

   Bei Dostojewski ist diese Wandlung erst am Wege: sie geht (entsprechend dem Tempo unserer Zeit) mit rapideren Geschwindigkeiten als der Wertwandel Goethes. Als er starb, vor fast einem halben Jahrhundert hatte Deutschland keinen einzigen wesentlichen Aufsatz, geschweige denn ein Buch über ihn. Als ich – man verzeihe, wenn ich hier ein persönliches Beispiel anführe, - vor zwölf Jahren mit einem großen Aufsatz über ihn begann, gab es gerade eine Biographie und so viel wie gar kein künstlerisches Material. Die gesammelten Werke waren eben erschienen, es begann hinter dem Dichter des „Raskolnikoff“ erst ungewiß größere Gestalt sich abzuzeichnen, die größer und immer gewaltiger mit den Horizonten wuchs. Damals überkam uns zum erstenmal die Ahnung, daß hier aus einem Menschen ein Kosmos sich auftat, eine Welt von Problemen, die nun die Wissenschaft einzeln zu erörtern anhub. Heute gibt es schon eine Dostojewiski-Literatur, eine Dostojewskiphilologie, ähnlich vielfältig und reichhaltig wie die Goethewissenschaft, so daß bereits eine Dostojewskibibliographie notwendig wurde, um die ganze Fülle des Geschriebenen zu überschauen. Und langsam steigt die erhabene Figur jetzt die dritte Stufe hinan, in den Himmel der Menschheit, wo die ewig leuchtenden Sternbilder des Genius stehen: mit starkem Licht, lange unerkannt, ist er in ihre Reihe getreten, und sein Werk, sein Wesen wird nie mehr verloren gehen für die ewig wandelhafte Betrachtung der kommenden Geschlechter. Dostojewski ist heute mehr als ein Dichter, er ist ein geistiger Begriff, der immer wieder neue erklärt und gemünzt werden will, und sein Wesen durchdringt und überstrahlt alle Sphären des Geistes, die dichterische so wie die religiöse, wie die philosophische und kulturelle. Jedes dieser Gestirne der Ewigkeit, die über unsern Seelen leuchten, ist eine Welt: jede dieser Welten will immer wieder neu entdeckt, erlebt und verstanden werden.

   Ein Wegweiser in diese nie voll zu erforschende, weil unendliche Welt Dostojewskis will dieses Buch Hans Pragers sein: es unterläßt mit Bewußtsein, auf der Karte dieses unendlichen Kosmos, die dichterischen Straßenzüge und Quelläufe einzuzeichnen, sondern gibt nur eine verläßliche Zeichnung der philosophischen Tektonik, der geistigen und religiösen Gedankengänge. Damit vereinfacht und entvielfältigt sein einführendes Werk natürlich Dostojewskis Welt, aber es schafft damit eine Übersicht im erst Unentwirrbaren, es gibt gleichsam nur eine Generalstabskarte, auf der nichts als die großen Gebirgszüge, die Höhenwege der Ideen sichtbar sind und von denen aus der geistig-geologische Ursprung des Dostojewskischen Kosmos klar erkennbar wird. Es will führen ohne die Vermessenheit, alles erklären zu wollen, einführen, ohne in ein System zu verführen, es will bloß deutlicher sein als die schöpferische überschwängliche Wirrnis des Dichters, die ja immer ein herrliches Teil Urfeuer und Chaos in sich trägt. Darum wird es gerade denen wertvoll werden, die nicht beim bloß Erzählerischen, bloß Spannungshaften Dostojewskis stehen bleiben, sondern die ihn als Kosmos verstehen wollen und die scheinbare Wirrnis als gestaltete Welt empfinden. Es ist ein gut Teil geistiger Geometrie in Hans Pragers Versuch, der die Formen, um sie klar zu machen, in Formeln auflöst; aber niemals verführt ihn die philosophische Methode dazu, das Künstlerische restlos mathematisieren zu wollen: seine Klarheit sieht nachträglich den Weg, den der Dichter dämonisch waltend in heiliger Unbewußtheit sich gebahnt, als sinnvollen und deutet diesen Sinn. Alle Gewaltsamkeit, alle Überheblichkeit liegt ihm vollkommen ferne, nirgends ist ein System in diese naturhafteste aller dichterischen Welten konstruiert, sondern nur das Gefüge dieser Welt in gleichsam metaphysischer Modellierung nachgebildet. So liegt dies Buch wie eine Landkarte neben einer Landschaft als ein Wunsch und ein Willen, Jeden rascher und leichter in ihre vielfältige Schönheit zu führen und sie wissender genießen zu lassen: der zum erstenmal in sie eingeht, wird an diesem Werk eine Hilfe haben und, der in ihr schon heimisch wohnt, eine geistige Bestärkung seiner Liebe.
Stefan Zweig - 1923

 


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