DIE WELT ANSCHAUUNG DOSTOJEWSKIS -
von Dr. Hans Prager, Verlag Borgmeyer, Hildesheim, 1923, 215 Seiten

Textauszug aus o.g. Werk: S. 95

Der Idiot

(...) Dostojewski legt einer Gestalt seines Romanes, dem kranken jungen Hippolyt, folgenden Ausspruch in den Mund: "Auf das Leben kommt es an, einzige auf das Leben - auf das Entdecken des Lebens, das ununterbrochene und ewige Entdecken, und durchaus nicht auf das Entdeckte selbst!" Von "Raskolnikoff" bis zu den "Karamasoff" entfaltet sich dieser unermüdliche nie endende Lebensprozeß, welcher immer stärker alle Hindernisse hinwegräumt. Der tiefere Sinn unseres Daseins, das selbst eine unbezweifelbare Tatsache ist, liegt in dem unaufhörlichen Werden, durch das wir erst wahrhaft unserer geistigen Bestimmung näher kommen. - Dieser Hippolyt spricht auch davon, daß die "Demut eine furchtbare Kraft" sei. Die Demut wohnt im Fürsten, viel stärker und entfalteter schon als im Schatoff. Es kann nach Dostojewski keine gewaltigere Kraft geben, als die es ist, welche dem Inneren des Menschen entstammend, sich gegen ihn selbst richtet, nicht als dämonischer Zwang, sondern als eine freie Tat, eine neue Seele schöpferisch gestaltend. In Dostojewskis Werk hat die russische Demut wunderbares Leben gewonnen, die vielen schlichten Menschen, die unser Dichter geschaffen, bezeugen dies. Diese Art von Demut ist eine überindividuelle Tat, welche den Menschen über sich hinausbringt.1) Demut, die aus dem russischen Blut sich formt, wächst wohl nur in der Einzelseele; weil sie aber aus Blut und Boden stammt, ist sie eine überpersönliche Kraft, welche nur aufbauen und nicht zerstören kann, sie macht, daß die Menschen "ihr Samenkorn" ausstreuen, "einen Teil ihrer Persönlichkeit hingeben und den Teil der anderen Persönlichkeit in sich aufnehmen." Der Eigenwille steht diesem Ineinanderfluten der Kräfte entgegen und ohne Richtungswillen geht dieses Ziel verloren. Unser Held schwankt noch zwischen grenzenloser Demut und maßloser Richtungslosigkeit hin und her; er hat die Demut und doch noch nicht so in sich, daß sie ihn von der Selbstzerstörung bewahren könnte. Sein Schwanken ist sein Leiden, er steht noch - wie Hippolyt - mit jenem Reich in Verbindung, welches in die Seele "dunkle Gewalten" sendet, halluzinatorische Träume, welche die "Formen einer Tarantel" annehmen. Völlig halluzinationsfrei ist in seiner zielbestimmten Demut Aljoscha.

Der Fürst wird von den sich verwirrenden Ereignissen immer mehr umschlungen, wird immer aufgewühlter, verzweifelter, leidender. Er ahnt das heraufziehende Gewitter, dem er sich hilflos ausgeliefert fühlt. Seine Demut macht ihn schwach, weil sie die Kraft eines noch nicht völlig entwickelten Menschen ist.

* * *

(....)

Fußnote
1) Die religiöse von unserem Dichter geschilderte Demut ist eine andere, als jene der altchristlichen Märtyrer, die bis zur Selbstvernichtung gingen. Diese selbstmörderische Entwertung des Lebens lehnt Dostojewski ab.


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